(CB) Wir sehnen uns nach „Normalität“ – doch was ist „Normalität“ ? Ist es das Leben, so wie wir es vor der Corona-Pandemie kannten ? Möchten wir genau an diesem Punkt „weitermachen“, an dem wir durch die Corona-Pandemie „unterbrochen“ wurden ? Sich wieder treffen, sich wieder nähern zu können, keine Maske mehr tragen zu müssen, keinen Abstand mehr halten zu müssen und auch die Hände nicht mehr ständig waschen und desinfizieren zu müssen ? Oder wird es eine „neue“ Normalität geben – anders, als das, was wir vor der Corona-Pandemie als „Normalität“ bezeichnet haben ?
Durch den „Lockdown“ sollen wir alle als Gesellschaft dazu gezwungen werden, unsere sozialen Kontakte auf das absolute Minimum zu reduzieren – nur so kann die Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus eingedämmt werden. Ich selbst bin Naturwissenschaftler – Biologe, um genau zu sein. Das macht es vielleicht ein wenig einfacher, die Ideen der Wissenschaftler, die hinter den aktuell ergriffenen Maßnahmen und Regeln stehen, zu verstehen. Vielleicht fällt es mir aufgrund einer naturwissenschaftlichen Ausbildung ein wenig leichter, die von den Virologen nun veröffentlichten Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu durchschauen. Dazu kommt, dass man als Wissenschaftler verstehen kann, warum sich die Virologen in den öffentlichen Debatten widersprechen – Wissenschaft lebt von der Meinungsvielfalt, der Vielfalt unterschiedlicher experimenteller Herangehensweisen und der Diskussion der unterschiedlichen Interpretationen von Ergebnissen. Ja, und die einst erlernten und eingeübten Methoden des wissenschaftlichen Vorgehens – insbesondere des Hinterfragens und der Literaturrecherche – erleichtern sicherlich auch die Suche nach Informationen, um Lücken im Verständnis zu schließen.
Die Corona-Pandemie als Katalysator
Andererseits erscheint mir die Corona-Pandemie auch wie ein gewaltiger „Katalysator“ zu wirken. In der Chemie spricht man von einem Katalysator, wenn ein Stoff die Aktivierungsenergie einer Reaktion absenkt und sie so beschleunigt, ohne selbst in der Reaktion verbraucht zu werden.
Zur Verdeutlichung was ich meine: in vielen Bereichen ist unsere Gesellschaft und damit auch unsere „Normalität“ permanent in einem Zustand der Veränderung, aber die Veränderungen geschehen so langsam oder werden durch steuernde Eingriffe so „abgebremst“, dass unsere Anpassung an neue Zustände als „Normalität“ empfunden werden.
Durch die coronabedingten Lockdowns musste sich die gesamte Gesellschaft in Deutschland plötzlich anders orientieren – und eben nicht langsam in einem schleichenden Veränderungsprozess, sondern von jetzt auf gleich, von heute auf morgen.
Nehmen wir Video- und/oder Audiokonferenzen. Die Technik bzw. die Technologie ist nicht wirklich neu, sie gibt es schon länger – aber es gab nur wenig Anlass, sich damit tatsächlich aktiv auseinanderzusetzen. Besprechungen wurden als Präsenzveranstaltungen in Besprechungsräumen durchgeführt. Man saß sich gegenüber (oder auch nebeneinander), kritzelte auf Flipcharts herum und diskutierte miteinander. Und dann kam die Corona-Pandemie und von jetzt auf gleich sollten Kontakte vermieden werden. Video- und Audiokonferenzen waren im Grunde über Nacht als Ersatz für die Präsenzbesprechungen erforderlich geworden, um sich in Arbeitsgruppen trotz Kontaktbeschränkungen weiterhin abstimmen zu können. Bei den Beteiligten wurden Video- und Audiokonferenzen in kürzester Zeit als Möglichkeit akzeptiert und die Beteiligten lernten innerhalb kürzester Zeit, die Video- und Audiokonferenz-Programme anzuwenden. Mehr noch – plötzlich gewannen auch Programme zur Simulation eines Flipcharts an Bedeutung: weil man seinen Bildschirm mit der gesamten Video-/Audiokonferenzgruppe teilen kann und alle trotz Entfernung zusehen können, wie auf dem digitalen Flipchart Gedanken visualisiert werden. Aus eigener Erfahrung muss ich dazu sagen, dass meine eigene Lernkurve schon im ersten Lockdown diesbezüglich ziemlich steil anstieg. Mittlerweile kenne ich wohl alle gängigen Video-/Audiokonferenzplattformen, die in der Wirtschaft von Bedeutung sind. Und mittlerweile habe ich an unzähligen Video-/Audiomeetings teilgenommen und eine ebenso große Zahl selbst organisiert – und dabei festgestellt, dass es ziemlich einfach, komfortabel und zuverlässig funktioniert. Inzwischen habe ich sogar an mehreren Fortbildungen teilgenommen, die ausschließlich online per Videokonferenz stattgefunden haben und ich muss sagen, dass das besser funktioniert, als ich gedacht hatte.
Selbst im privaten Bereich sind auf einmal Videokonferenzen mit der Familie üblich. Zwar wünscht man sich doch immer wieder, dass man sich möglichst bald auch wieder persönlich treffen kann, doch besser per Videokonferenz als gar nicht. Kurz: ich denke, dass Video- und Audiokonferenzen ein wesentlicher Bestandteil der (Unternehmens-)Kommunikation bleiben wird.
Ein anderes Beispiel: Homeoffice und mobiles Arbeiten. Auch für Homeoffice und mobiles Arbeiten standen bereits umfangreiche Lösungen vor der Corona-Pandemie bereit. Dennoch waren „Homeoffice“ und „mobiles Arbeiten“ in Deutschland eher im Bereich von Außendienst- und Service-Mitarbeitern anzutreffen. Viele Vorgesetzte waren gegenüber Homeoffice bzw. mobilem Arbeiten eher skeptisch eingestellt und hielten an der physischen Präsenz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fest. Und dann kam die Corona-Pandemie mit Lockdown und Kontaktbeschränkungen. Um die erforderlichen Abstände zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einhalten zu können (immerhin eine Forderung der Arbeitsschutzregel und des Arbeitsschutzstandards des BMAS im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zur Corona-Infektionsgefahr), war es plötzlich in vielen Unternehmen erforderlich, die Anzahl der gleichzeitig anwesenden Personen zu reduzieren – Homeoffice und mobiles Arbeiten waren schlagartig als Lösung anerkannt. IT-Abteilungen und IT-Dienstleister liefen in kürzester Zeit zur Höchstform auf und machten den sicheren und DSGVO-konformen Zugriff auf die Firmensysteme von außen möglich, so dass viele berufstätige Personen auch von zu Hause aus arbeiten können. Und auch hier – so denke ich – wird sich die Zeit kaum zurückdrehen lassen. Immerhin denkt jetzt sogar das BMAS über ein „Recht auf Homeoffice/mobiles Arbeiten“ nach.
Die größten Umwälzungen werden die Innenstädte zu ertragen haben
Aktuell befürchte ich aber, dass die größten Umwälzungen in den Innenstädten geschieht. Die kleinen, inhabergeführten Geschäfte sind inzwischen weitgehend aus den Innenstädten verschwunden und durch Filialen der großen Handelsketten ersetzt worden. Doch auch diesen – seinerzeit als „Frequenzbringer“ angesehen – Filialen drohte Ungemach von Seiten des Online-Handels. Der Online-Handel hat in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung und damit auch an Umsatz gewonnen – Umsatz, der dem stationären Einzelhandel in den Innenstädten verloren gegangen ist. Der „klassische“ Einkaufsbummel findet in zunehmendem Maße im Internet statt.
Selbstverständlich haben auch die großen Handelsunternehmen darauf reagiert und sind im Internet mit Shops, die die einfache digitale Bestellung von zu Hause aus ermöglichen, vertreten. Durch die zunehmende Attraktivität des Online-Handels verlieren selbst die in den Innenstädten ansässigen Filialen der großen Handelsketten Umsatz. Das Modell „Im Internet bestellen, vor Ort abholen und bezahlen“ wirkt dieser Entwicklung nur bedingt entgegen – wenn ich schon im Internet bestelle, kann ich die Ware per Online-Banking über das Internet bezahlen und ich kann mir die Ware auch direkt nach Hause liefern lassen. So erspare ich mir die Fahrt oder den Gang in die Stadt.
Zudem: im Internet finde ich eine Auswahl, die ich in keiner Innenstadt jemals vorgefunden habe – per Mausklick und Vergleichsportal kann ich das für mich am besten passende Angebot auswählen.
Insofern ist ein coronabedingter „Lockdown“ der Super-GAU für den stationären Einzelhandel, insbesondere für die wenigen tatsächlich noch existierenden kleinen, inhabergeführten Geschäfte, die sich kaum eine sichtbare, auffindbare Internet-Präsenz mit eigenem Online-Shop leisten können. Auch wenn die Werbung diverser Internet-Dienstleister das Gegenteil behauptet. Appelle an die Solidarität der Kunden dürften – bei ehrlicher Betrachtung – verhallen. Die Extremsituation der Corona-Pandemie dürfte bei den meisten Einkäufen ein sehr hohes Preisbewusstsein verursacht haben, um selbst zu sparen – niemand kann wissen, welcher Art und Weise die Corona-Pandemie zu eigener Betroffenheit führen wird.
Es bleibt auch hier zu befürchten, dass die Corona-Pandemie hier als „Katalysator“ eine ohnehin stattfindende Entwicklung stark beschleunigt hat. Wahrscheinlich werden wir unsere Innenstädte nach der Corona-Pandemie kaum wiedererkennen – ob uns das gefällt oder nicht. Ich gehe aktuell davon aus, dass durch die Corona-Pandemie und insbesondere durch die damit verbundenen „Lockdowns“ die Entwicklung des stationären Einzelhandels um 10 Jahre vorweggenommen wurde.
Normalität
Insofern ist es sehr wahrscheinlich, dass wir nicht mehr zu der „Normalität“ zurückfinden werden, die wir vor der Corona-Pandemie zurückgelassen haben. Es wird sich eine neue „Normalität“ einstellen, die aber deutlich anders sein wird, als das, was wir als „Normalität“ zurücklassen mussten. Wie anders die neue „Normalität“ sein wird und vor allem, wie lange sie andauern wird, lässt sich nicht einmal ansatzweise vorhersehen…