(CB) Dass Wissen verloren gehen kann, ist der Menschheit wohl bewusst. Nicht umsonst versuchen viele tausend Archäologen die Hinterlassenschaften unserer Vorfahren auszugraben und zu interpretieren. Doch besonders das aktuelle Wissen ist von Verlust bedroht – wer weiß, wie lange die aktuellen Datenträger und Datenformate auf denen und in denen das Wissen der Menschheit noch existieren. Vor allem: wie lange werden die technischen Beschreibungen „überleben“, in denen dargestellt ist, wie die aktuellen Datenspeichermedien und -formate funktionieren ?
Darüber hinaus durfte ich feststellen, dass gerade auch das Wissen um Kulturgüter wie Schriften und Schriftarten verloren geht. Ich gehöre zu der Generation, die in der Schule noch mit der „Lateinischen Ausgangsschrift“ aufgewachsen ist. Danach kam dann irgendwann die „Vereinfachte Ausgangsschrift“…
Und dann waren da immer die Briefe und Postkarten meiner Großeltern – alle so zwischen 1905 und 1910 geboren. Als (Schul-)Kind konnte ich ihre Handschrift einfach nicht lesen. Meine Eltern haben und Kindern dann immer Briefe und Postkarten der Großeltern vorgelesen. „Sütterlin“ oder „Sütterlinschrift“ nennt sich die (Hand-)Schrift der Großeltern, die 1911 im Auftrag des Preußischen Kultur- und Schulministeriums von Ludwig Sütterlin entwickelt und ab 1915 verbindlich eingeführt [1]. Kein Wunder also, dass die Großeltern so „merkwürdig“ schrieben – sie hatten es so gelernt!
Die Sütterlinschrift wurde durch andere Schriftarten ersetzt – doch das Wissen in den Köpfen der Großeltern und Eltern ist geblieben. Zum Glück.
Doch das Glück, Wissen von den Großeltern und Eltern bekommen zu haben, teilt nicht jeder. So durfte ich vor einigen Tagen ein Bild betrachten, in welchem ein traditionelles Gasthaus in Hattingen gezeigt wurde – mit dem Titel „Zum alten Kronn“. Ein Blick auf das fotografierte Wirtshausschild löste den bei mir den Gedanken aus „So hat doch Oma geschrieben!“. Und richtig: dort stand nicht „Zum alten Kronn“, sondern „Zur alten Krone“. In Sütterlinschrift! Wunderbar – so ganz „weg“ ist dieses Kulturgut also doch noch nicht. Weitgehend fort ist wohl aber das Wissen um diese Schrift – der Fotograf jedenfalls konnte die Schrift wohl nicht lesen und hat sich leider auch nicht die Mühe gemacht, die Aushänge des Gasthauses zu betrachten. Schade! Dabei ist Fotografieren doch zunächst erst einmal sehen. Denn dort in den Aushängen steht der Name in Frakturschrift. Oder ist die inzwischen auch so „unlesbar“ geworden ?
Zur Verdeutlichung füge ich mal ein Bildbeispiel ein, in welchem die Schriftarten miteinander verglichen werden. Und ja, die Buchstaben der Sütterlinschrift sind wahrlich nicht leicht zu entziffern. Vor allem die Ähnlichkeit von „e“ und „n“ fällt auf. Die Frakturschrift ist den modernen Schriftarten deutlich ähnlicher und daher eigentlich einfacher lesbar.
Ich kann mich daran erinnern, dass wir als Schüler in der Grundschule eine Zeitlang im Kunstunterricht bei Frau Brenner – unserer damaligen Klassenlehrerin – „Schönschreiben“ lernen mussten. Dazu hatten wir ein „Schönschreibheft“, in welchem wir mit Tusche und Feder (!) Worte und Sprüche sowohl in Sütterlinschrift als auch in Frakturschrift hineinschreiben mussten.
Der Fotograf des erwähnten Bildes – obwohl wesentlich älter daher viel erfahrener und mit viel größerem Wissen als ich selbst ausgestattet – hatte wohl nicht das Glück, von Eltern und Lehrern etwas über Schriftarten zu erfahren. Aber „googeln“ wäre auch möglich gewesen…